|
Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
Natürlich sind wir Menschen keine Marmorblöcke, wir sind aus Fleisch und Blut, haben Verstand und ein gewisses Maß an Entscheidungsfähigkeit. Und doch kommen wir uns manchmal vor, als seien wir so ein Stein, herausgebrochen aus einem Steinbruch, abgestellt in die Landschaft, langsam zerfallend, ohne Glanz und Schönheit, unseren Ansprüchen und den Ansprüchen unserer Umgebung nicht gerecht werdend. Vielleicht greifen wir auch selbst zum Meißel und versuchen etwas aus uns zu machen. Wir hauen hierhin und dorthin, aber die große Linie finden wir nicht. An einer Stelle gewinnen wir Kontur, an der anderen Stelle entgleitet uns wieder das Bild, das wir von uns haben, und alles wird beliebig. In diese Situation hinein hören wir Gottes Stimme, der uns sagt: "Du bist mein Kind. Aus einem formlosen Quader mache ich ein lebendiges Wesen mit Herz, Seele und Verstand. Ich weiß, wie du einmal werden wirst, lass mich an dir arbeiten. Du wirst staunen, was daraus wird." Der Apostel Johannes ist etwa in der Mitte seines Briefes angekommen. Immer wieder brachte er die Hauptthemen zur Sprache. Er warb um einen Glauben, der sich in der Liebe zu den Geschwistern in der Gemeinde bewährte. Er warb um Gegner, die meinten, sie bräuchten sich um ihre Geschwister in der Gemeinde nicht zu kümmern und wären schon perfekt. Er schärfte seiner Gemeinde ein, dass sie Jesus brauchten, weil er für sie beim Vater einstand und für ihre Sünden eintrat - auch nach der Taufe. In der Mitte des Briefes erwartet man nun eigentlich, dass es in dem Stil weitergeht und der Apostel noch deutlicher wird, wie denn Glauben in der Gemeinde zu leben sei. Doch stattdessen stoßen wir auf einen so tröstlichen, so mutmachenden Ausspruch, der uns einfach zum Verweilen einlädt. 1 Johannes 2,28-3,3 Seht doch, wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so groß, dass er uns seine Kinder nennt. Und wir sind es wirklich: Gottes Kinder! Deshalb kennt uns die Welt nicht; sie hat ja auch ihn nicht erkannt. Ihr Lieben, wir sind schon Kinder Gottes. Was wir einmal sein werden, ist jetzt noch nicht sichtbar. Aber wir wissen, wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er wirklich ist. Alle, die das voller Zuversicht von ihm erwarten, halten sich von allem Unrecht fern, so wie Christus es getan hat. Der Schreiber des Briefes hat offensichtlich den Eindruck, dass seine Leser jetzt eine Atempause brauchen. Sie sollen die Werkzeuge nicht selbst in die Hand nehmen, um an sich zu arbeiten. Sie sollen seinen Zuspruch hören und sich bewusst machen, zu wem sie gehören. Sie stehen durch Gottes Anfang mit ihnen auf seiner Seite. Sie sind Gott wichtig, weil er sie liebt. Sie können sich sicher sein, dass das auch so bleiben wird, wenn sie ihn machen lassen und sich seiner Veränderung aussetzen. Ich möchte Sie einladen, dem Verlauf des Johannesbriefes zu folgen und sich an dieser Stelle Gottes Liebe zusprechen zu lassen. Der Zusammenhang, in den Johannes diese Aussage einbettet, erinnert an die Biographie unseres Kirchenvaters John Wesley. Ihn trieb eine große Angst an, vor Gott nicht bestehen zu können. So übte er sich in Selbstdisziplin, Verrichten von guten Werken, wurde nicht ruhelos, an sich zu arbeiten und etwas aus sich zu machen, das Gott gefällt. Sogar eine Missionarsstelle nahm er in Neu-England an. Doch spätestens dort musste er sich sein Scheitern eingestehen. Statt besser vor Gott dazustehen, hatte er seinen Auftrag in den Sand gesetzt. Statt Menschen die Furcht vor Gott beizubringen, hatte er sie abgestoßen und sich selbst in eine ausweglose Lage manövriert. Er musste wieder abreisen aus der englischen Kolonie. Schon auf der Hinreise von England nach Amerika kam Wesleys Schiff in einen schweren Seesturm, was ihn in große Panik stürzte. Er hatte Angst, vor dem endzeitlichen Richter nicht bestehen zu können. Er sah sein Konto noch nicht als ausgeglichen an. Ganz anders dagegen reagierte auf diesem Schiff eine Gruppe der Herrnhuter Brüdergemeinde. Sie sangen miteinander, beteten, lobten Gott, von Panik keine Spur. Spätestens da erkannte John Wesley, dass ihm bei seinem Glauben an Gott etwas Entscheidendes fehlte. Er war der Marmorblock, der an sich wie verbissen arbeitete, um bei seinem Tod perfekt vor Gott dazustehen. Die Herrnhuter dagegen gingen einfach davon aus, dass Gott an ihnen arbeitete und sie liebte, egal wie weit er mit seiner Kunst gekommen war. John Wesleys Selbsterlösungsversuche erinnern mich an ein Gespräch mit einer alten Dame über ihren bevorstehenden Tod. Sie sagte, sie sei noch nicht so weit, um zum Herrgott zu gehen. Sie hätte noch unerledigte Aufgaben. Sie müsste noch Gutes tun, sonst würde sie nicht in den Himmel kommen. Und ich denke auch an die Alltagssituationen von Menschen, die Gott gar nicht kennen. Sie haben Angst, vor ihren Chefs nicht bestehen zu können. Aus Angst arbeiten sie immer mehr, hämmern und meißeln an sich auch am Wochenende. Schließlich sind sie so entkräftet, dass sie zusammenbrechen und sich nur noch ihr Scheitern eingestehen können. Selbsterlösungsversuche haben viele Gesichter. Sie können religiös motiviert sein wie bei John Wesley und der alten Dame, sie können aus dem Alltag entspringen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie von Angst motiviert sind, mehr Kraft brauchen, als zur Verfügung steht und so letztlich zum Misserfolg führen. Der Marmorblock wirft seine Werkzeuge in die Ecke und verfällt. Wie John Wesley auf Gottes Liebe durch die Herrnhuter aufmerksam geworden ist, die seine Lebenswende eingeleitet haben, so macht uns Johannes aufmerksam auf Gottes Liebe. Sie geht immer voraus und ergreift die Initiative. Wir können bei ihr bleiben. Sie verändert uns. Sie nimmt uns die Angst vor dem letzten Gericht und dem Scheitern. Wir können bleiben Ist es nicht mit Gottes Liebe und uns ganz genauso? Da lassen wir es uns so richtig zu Herzen gehen, dass Gott uns seine Liebe in Jesus Christus gezeigt hat. Wir atmen diese frohe Botschaft ein, sie füllt unser Herz und unser Gemüt. Doch kurze Zeit später schon sind wir wieder voll in unsere Aktivitäten verstrickt. Wir arbeiten unsere Listen ab, führen Gespräche über Alltagsdinge, lenken uns ab von wesentlichen Fragen, die zu klären werden und tanzen umher wie der Marmorblock in Michelangelos Werkstatt. Sollte Gott uns in diesem Zustand verändern können? Und muss er erst eine Krankheit schicken, die uns ans Bett fesselt, dass wir stehen bleiben, um ihn wirken zu lassen? John Wesley hatte nach seiner Lebenswende und der Erfahrung der bedingungslosen Liebe Gottes kaum mehr Zeit dazu als wir. Er stand in den frühen Morgenstunden auf, hielt den Tag über mehrere Gottesdienste und ging spät in der Nacht zu Bett. Aber er war mit einem Pferd unterwegs und ritt jeden Tag viele Kilometer zwischen seinen Predigtorten. In seinem Tagebuch schreibt er, dass das die Stunden der Stille für ihn waren, auf dem Pferd konnte Gott an ihm wirken. Wo ist unser stiller Ort, an dem wir stehen bleiben und Gott reden lassen? An dem wir seinen Zuspruch hören und er endlich anfangen kann, uns zu verändern? Vielleicht ist es ja auch der tägliche Weg, den wir zurücklegen müssen - möglichst zu Fuß, um keine Unfälle zu provozieren. "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast" kann die Aufforderung lauten, Jesus mit auf den Weg zu nehmen und sich ihm auszusetzen. Vielleicht ist es der Freund, die Bekannte, der ich den Auftrag gebe, mir nicht nur Nettes zu sagen, sondern mich geistlich zu begleiten, mir Gottes Liebe zuzusprechen und mich aufmerksam zu machen, wo ich Wachstum und Veränderung brauche. Vielleicht ist es schon die Sonntagsruhe, die mir ein Bleiben bei Gott ermöglicht, ein Stillehalten, dass er an mir arbeiten kann und ich eine neue Form annehme, nach seinem Bild. Wir werden Jesus ähnlich Jesus ähnlich zu werden bedeutet, uns mit den Gaben einzubringen, die er uns geschenkt hat. Diese Verheißung widerspricht unseren derzeitigen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt. Eine Qualifikation bedeutet noch lange nicht, sie auch einsetzen zu können. Im Gegenteil, man bekommt eher das Gefühl überflüssig und nutzlos zu sein. Eine behauene Statue darzustellen, die im Lagerhaus verkümmert. Gottes Liebe lässt uns nicht in der Statistik des Arbeitsamtes untergehen. Er kennt keine Statisten, die zwar von ihm wunderbar geformt werden, dann aber ungebraucht in der Ecke stehen bleiben. Bei ihm, und das ist wahrhaftig Ausdruck seiner Liebe, wird jede und jeder gebraucht. Nicht immer ist damit ein besonderes Amt verbunden oder eine leitende Tätigkeit. Oft sind wir gefragt mit einem guten Wort, einem Anruf in der Woche, einem spontanen Mittagessen, manchmal auch als die, die nach der Teerunde das Kinderzimmer in der Kirche aufräumen oder die Schnipsel im Eingangsbereich in den Mülleimer werfen. Doch das sind alles Zeichen der großen Veränderung, die Gott an uns vollbringt. Dass wir nicht mehr nur auf unser Fortkommen, unseren Profit und unseren Platz in der Welt achten, sondern von ihm so gebraucht werden, wie er uns geformt hat. Dazu ist auch das Stillhalten nötig, sonst nehmen wir den Auftrag nicht wahr, den er uns geben will. Wir sind uns seiner Liebe gewiss Wer sagt uns das im kräftezehrenden Alltag
zu? Letzte Woche kauften wir uns eine neue Fußmatte. Sie sollte symbolisieren, wer zu unserer Haustür herein kommt, ist herzlich willkommen. Mir ist diese Fußmatte zu einer Auslegung dieses Briefabschnitts geworden. Gottes Liebe zu mir ist so groß, dass er seinen Sohn als Fußmatte vor mein Leben legt. Ich kann bei ihm alle Lasten, allen Schmutz und alle Verletzungen los werden. Er nimmt sie weg und lässt mich als herzlich Willkommene den Alltag nach den Vorstellungen meines Bildhauers gestalten. Cornelia
Trick
|