Sonnenaufgang
Gottesdienst am 26.02.2006

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
zwei Bergsteiger biwakieren auf einem schmalen Felssims in der steilen Wand. Die Nacht hatte sie zu früh überrascht. Sie konnten ihren Aufstieg nicht mehr bis zum vorgesehenen Punkt fortsetzen. Nun kauerten sie zusammengesunken an der kalten Wand und schauten sehnsüchtig dem nahen Morgen entgegen, der ihnen wieder Klarheit für die weitere Route geben würde. 

Eine Frau wälzt sich im Bett. Sie ist schweißgebadet. Von einem Alptraum aufgeschreckt kamen ihr alle ungelösten Probleme dieser Tage in den Sinn, die sich nun in ihrem Kopf in der Endlosschleife drehen. Da ist ihre pflegebedürftige Mutter, die Kinder mit ihren Schulproblemen, der Mann, mit dem sie fast nichts mehr verbindet, die Schulden. Sie kann sich aus diesen Gedanken nicht befreien. Erst das anbrechende Morgenlicht Morgensonnenimmt den Felsbrocken von ihrer Seele. Es dringt wieder Licht zu ihr durch.

Für die Nachtschwester nimmt die Nacht auch kein Ende. Sie rast von einem Zimmer zum nächsten, stillt hier Schmerzen, wechselt dort die Bettwäsche, sagt ein ermutigendes Wort und bleibt es genauso oft schuldig, weil sie selbst keine Kraft mehr hat. Das Ende der Nacht bedeutet für sie, wieder nach Hause zu können, sich Schlaf zu gönnen und die müden Füße auszuruhen. 

Als die Israeliten begannen, sich im damaligen Kanaan niederzulassen, gab es eine Epoche, die für die Menschen später wie eine lange Nacht wirkte. Es war die Zeit der Richter um das 12. Jahrhundert vor Christus. Die siedelnden Nomadenstämme wurden immer wieder von den bewaffneten und mit Kriegsgerät ausgestatteten Bewohnern des Landes angegriffen. Man versuchte sie zurück zu drängen und das eigene Territorium immer weiter auszudehnen. Im Nachhinein interpretierte man diese Epoche in Israel so: Weil Israel sich nicht mehr voll und ganz auf Gott verließ und anfing, die Gottheiten der ortsansässigen Kanaanäer anzubeten, gab Gott sie in die Hände ihrer Feinde, die sie versklavten und ihnen hohe Abgaben aufbürdeten. In ihrer Not erinnerten sich die Israeliten an den Gott, der sie aus Ägypten geführt hatte, riefen zu ihm um Hilfe und wendeten sich von den kanaanäischen Gottheiten ab. Gott hatte ein Einsehen, er erbarmte sich über die Gedemütigten und half ihnen, indem er Retter berief, die ein Heer zusammentrommelten, gegen die Feinde kämpften und sie besiegten. Daraufhin herrschte eine Weile Ruhe im Land, bis Israel wieder Gott vergaß.

Während der 20-jährigen Unterdrückung durch den Kanaanäerkönig Jabin wurde die Not der Israeliten immer bedrohlicher wie ein Alptraum der Nacht, ein kaltes Biwak über dem Abgrund oder eine Nachtschicht ohne Ende. Man sah keine Möglichkeit, sich den Bedrängnissen der Fremdherrscher zu entziehen, die alle Gewalt in ihren Händen hatten. Da erwachte die Erinnerung an den Gott Israels, der ja schon damals in Ägypten auf der Seite der versklavten Israeliten war. Das Volk rief nun in seiner Not zu Gott und bat ihn dringend um Hilfe. Gott erhörte das Gebet in der Mitte der Nacht. Doch obwohl er die Fäden in der Hand hatte, griff er nicht einfach von oben in die Geschichte ein, um die Bedrücker in ihre Schranken zu weisen und die Israeliten zu befreien. Er berief stattdessen Deborah, die als Richterin in Stammesangelegenheiten den Israeliten wohl bekannt war. Von Deborah heißt es, dass sie aufstand, als sie Gottes Ruf vernahm. Sie ergriff Initiative, versteckte sich nicht vor dem Feind, sondern sah ihm ins Gesicht. Sie suchte sich Verbündete und ließ Barak mit den Verbündeten gegen die Feinde ziehen. Gott schenkte den Sieg, der wiederum durch eine Frau, die nur am Rande mit den versklavten Israeliten zu tun hatte, den Hauptmann Sisera töten ließ. Deborah rühmte Gottes Sieg mit einem Lied. Sie dankte ihm für sein Eingreifen und seine Befreiungstat. Sie erkannte, dass Gott die Regie geführt hatte, der damit die Nacht der Israeliten beendete und die Sonne aufgehen ließ. Sein Ziel war, dass sein Volk sich ihm wieder neu zuwandte und seine Liebe erwiderte. So sang Deborah:

"Die Gott lieben, werden sein wie die Sonne, die aufgeht in ihrer Pracht." Richter 5,31

Gottes Licht sollte das Volk nun in der Dunkelheit aufgehen lassen. Äußeres Zeichen dafür waren 40 Jahre Ruhe für Israel vor allen Feinden ringsum.

Die Geschichte von Deborah und Sisera ist alt. Ihre Handlung ist uns fremd. Wir definieren Gottes Liebe zu uns nicht über militärische Siege und Landgewinn. Dass Gott uns liebt, wissen wir von Jesus Christus, der uns den Zugang zu Gott ermöglicht. Doch auch für uns Christen im 21. Jahrhundert hat diese alte Geschichte wichtige Aspekte.

1 Wenn wir uns von Gott lossagen, sind wir nicht frei, sondern andere Mächte werden sich unserer bemächtigen.
Das Machtvakuum wird sofort gefüllt. Statt sich Gedanken über Gott zu machen, werden andere Gedanken und Themen Raum einnehmen. Dabei geschieht der Machtwechsel schleichend. Nicht wir bestimmen länger, was uns fesseln soll, sondern die Themen drängen sich mehr und mehr uns auf. Ängste gewinnen an Boden, weil es keine Instanz mehr gibt, der wir sie anvertrauen können. Unfrieden kann um sich greifen, weil die Quelle der Versöhnung nicht mehr fließt. Berufliche Anforderungen werden wachsen, weil wir niemand mehr haben, der Autorität hat, uns einen Sonntag zu verordnen. Statt ohne Gott frei zu sein, werden wir immer abhängiger von Menschen, Pflichten und Zuständen. 

Wir können aus der Geschichte von damals lernen, dass ein intaktes Gottesverhältnis die beste Abwehrkraft gegen feindliche Übernahmen ist. 

2 Gott wartet auf den ehrlichen Hilfeschrei.
Er signalisiert, dass die Not wahrgenommen und mit Gott in Beziehung gebracht wird. Von Gott wird gesagt, dass er sich über sein Volk erbarmte. Er hatte sie nach ihrem Willen ins Unglück rennen lassen, aber er hörte nie auf, sie zu lieben. So ist uns auch Jesus Christus nahegekommen. Er ermutigt die, die heute in ihrer Not zu ihm schreien: "Kommt alle zu mir; ich will euch die Last abnehmen!" (Matthäus 11,28) Er gibt zu verstehen, dass ein Hilfeschrei bei ihm ankommt. 

Doch die Hilfe, die er gewährt, sieht oft anders aus, als wir es erwarten. Er ist nicht der große Zampano, der mit einem Fingerschnippen die Scherben wieder zusammenfügt, die wir verursacht haben. Er reißt die Mächte und Gewalten, die uns unterdrücken, nicht einfach von uns fort wie eine lästige Decke. Er ermächtigt uns vielmehr zum Aufstehen wie Deborah. Er beruft uns, die Initiative zu ergreifen, Mitstreiter zu finden und den Kampf gegen die Unterdrücker mit seinem Geist ausgerüstet selbst aufzunehmen. Doch er bleibt immer der Autor und Regisseur des Drehbuchs. Dass Deborah und Jael den Sieg herbeiführten, dass Frauen die ersten Osterzeuginnen wurden, lässt klar erkennen, es ist nicht menschliche Kraft und militärische Überlegenheit, sondern Gottes Geist, der zum Sieg führt.

3 Gott hilft nicht an uns vorbei, sondern in enger Beziehung zu uns.
Wie das im Einzelnen geschieht, zeigt uns die Deborah-Geschichte sehr deutlich:

  • Ich setze mich mit meiner Situation und Not auseinander. Es liegt zwar oft näher, sich in wahren Endlosschleifen über die Not zu beklagen, ohne jemals einen Schritt hin zur Befreiung zu tun, doch wird so keine Macht und keine Gewalt vertrieben werden. Ich muss mir selbst sehr ehrlich Rechenschaft geben: Wer oder was drängt mich in die Ecke? Was will Gott mit meinem Leben? Wofür bin ich auf dieser Welt?
  • Ich muss bereit sein zu "kämpfen". Das bedeutet sicher nicht wie in der Deborah-Geschichte, einen Pflock durch den Kopf meines Gegners zu treiben und ihn umzubringen. Aber es bedeutet, wie Deborah ein Team zu bilden, das gemeinsam das Anliegen verfolgt. Ein solches Team hat im Sinne Jesu zuerst die Aufgabe miteinander zu beten, Jesus im Zentrum zu wissen und auf ihn zu hören. Im weiteren Verlauf wird das Team einander unterstützen, schützen, ermutigen, helfen und korrigieren. Es wird immer wieder darauf achten, Gottes Hinweise zu erkennen und sein Eingreifen zu erwarten.
  • Ich muss bereit sein, einen Schlussstrich zu ziehen und Neues anzugehen. Bin ich befreit von dem Bedrängenden und habe erfahren, dass Gott mir hilft, frei für ihn zu werden, gilt es, diese Erfahrung zu festigen. Was überwunden ist, gehört der Vergangenheit an. Ein Raucher, der das Rauchen aufgegeben hat, sollte nicht mehr täglich ein Zigarettenpäckchen kaufen. Die Versuchung könnte doch zu groß werden. Wer abgenommen hat, wird nicht Sahnetorten- und Chipstüten-Vorräte anlegen, wie schnell sind die abgehungerten Pfunde sonst wieder auf der Waage. Wer sich von seiner Freundin getrennt hat, sollte nicht mehr jeden Abend vor ihrer Haustür stehen und auf einen Schatten am Fenster warten. Er würde so nie ein neues Mädchen kennen lernen.
  • Ich darf die Zeit der Ruhe genießen. Israel hatte nach dem Sieg über Jabin 40 Jahre Ruhe, eine ganze Generation lang war das damals. Die Ruhe nach dem Sturm ist wichtig, sie ist eine Zeit der neuen Gotteserfahrungen, wo Glaube wachsen und die Gemeinschaft mit Jesus Christus im Alltag gelebt werden kann. Die Katastrophenfälle sind zwar oft die Anknüpfungspunkte für unser Schreien nach Gott, wachsen kann der Glaube aber erst in Zeiten der Ruhe und in der Gemeinschaft der Gemeinde.
Deborah beschreibt in ihrem Siegeslied, wie Israel in den 40 Jahren Ruhe aussehen wird, wie eine aufgehende Sonne in ihrer Pracht. Dieses Bild nimmt der Epheserbrief auf: "Wach auf, du Schläfer! Steh auf vom Tod! Und Christus, deine Sonne, geht auf für dich!" (Epheser 5,14) Die Fortführung der Worte Deborahs bedeutet, dass Jesus uns in einzigartiger Weise nahe gebracht hat, wie wir Gottes Geist brauchen, um ganz mit ihm verbunden zu sein und zu bleiben, dass niemand sich zwischen uns schieben kann. Jesus, die Sonne, ruft uns in seine Nachfolge. Als Menschen, die an ihn glauben und ihm vertrauen, werden wir zu einer Sonne, die nach der Nacht den neuen Tag ankündigt. Konkret wird im Epheserbrief nun aufgeführt, welche Folgen das hat: 
  • eine Haltung der Dankbarkeit
  • Singen von Lobliedern
  • Sich Erfüllen Lassen vom Heiligen Geist
  • Der Liebe Priorität geben
Die Nacht wird beendet mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Sie ist Symbol für Gottes Gegenwart und seine Hilfe in unseren Nacht-Situationen. Sie ist Zeichen der Verbundenheit Gottes mit uns. So werden wir als seine Kinder zu einem hellen Licht, das auf ihn hinweist und zu ihm ruft.

O Glück der Gnade! Gottes Hand und Augen suchten mich. Ich war verlorn, bis er mich fand, war blind, jetzt sehe ich.
Die Gnade hat mich Furcht gelehrt und doch von Furcht befreit; bin voll Vertrauen heimgekehrt zu Gott aus Angst und Leid. 
Durch viel Gefahr, durch Not und Nacht gab er mir das Geleit, hat sicher mich hierher gebracht, führt mich ans Ziel der Zeit.
In Güte hüllt mein Gott mich ein, verspricht mir täglich neu: Ich will dein Ein und Alles sein, bleib dir auf immer treu.
Selbst wenn mir Herz und Geist versagt, mein Leben schwindet hin, erscheint, wenn Gottes Morgen tagt, mein Sein voll Glück und Sinn.
Wenn wir vor Gott in Ewigkeit wie helle Sonnen stehn, dann werden wir, zum Lob befreit, von Angesicht ihn sehn.
(Amazing Grace, John Newton, deutsche Übersetzung A. und W.Klaiber)

Cornelia Trick


Home


Verantwortlich Dr. Ulrich Trick, Email: ulrich@trick-online.de
Internet-Adresse: http://www.predigt-online.de/prewo/prewo_sonnenaufgang.htm